Die Sanduhr, Leben hinter Glas
Wird fließen die Zeit, wird fließen der Sand
im Glas gemacht von Menschenhand?
Noch fern ist der Morgen, noch herrscht tiefste Nacht.
Die Welt liegt in Stille und Dunkelheit.
Im Glas ruht der Sand; aber steht auch die Zeit
still wurde die Nacht schon zum Tage gemacht.
Schon dämmert der Morgen, schon schwindet die Nacht.
Es dreht ganz behutsam, doch stetig das Glas,
es regt sich, was eben kein Leben besaß
der Wunsch zu gestalten die gottgleiche Macht?
Es fließt der Sand, es fließt die Zeit
durchs Glas gefüllt mit Menschlichkeit.
Es rinnt die Zeit, es rinnt der Sand
durchs Glas gemacht von Menschenhand.
Wenn plötzlich gen Ende der Dämmerung
das erste Korn deines Daseins verrinnt,
weil jemand entschied, dass dein Leben beginnt,
begreifst du es erst in Erinnerung.
Bricht die Zukunft herein, wird Vergangenheit mehr.
Dass Sand nach unten nur fallen kann,
ist weithin bekannt. Und was grade begann
zu erfreuen, lastet bald unsagbar schwer.
Es rinnt der Sand, es rinnt die Zeit
im Glas, das birgt Unendlichkeit.
Es läuft die Zeit, es läuft der Sand
im Glas gemacht von Menschenhand.
Bald erwacht ein Verlangen nach Ruhe und Rast,
der Wunsch zu stoppen den Fortschritt für Schritt.
Doch Stillstand ist Tod; nur der Fortschritt hilft mit
sie zu meistern die Sorgen, sie zu tragen die Last.
Kein Korn vermag abseits des Weges zu geh’n.
Der Wall, der sie hindert, ist nicht einmal dick.
Doch nützt weder Kraft hier noch größtes Geschick,
bestimmt ist der Weg nicht der, den wir sehn.
Es läuft der Sand, es läuft die Zeit
durchs Glas gefüllt mit Menschlichkeit.
Es rennt die Zeit, es rennt der Sand
durchs Glas gemacht von Menschenhand.
Und viel zu schnell überdeckt, was zurück-
liegt, den Stoff, auf den die Träume geschrieben.
Nur die bittre Gewissheit ist übrig geblieben:
Vom Leben stirbt stündlich ein weiteres Stück.
Weil nur das Leben zu leben wirklich Leben verheißt,
besitzt jedes Korn unschätzbaren Wert
die Gabe zu ehren, womit es beehrt,
bis der Abend dem Tage die Hoffnung entreißt.
Es rennt der Sand, es rennt die Zeit
durchs Glas, das birgt Unendlichkeit.
Es fliegt die Zeit, es fliegt der Sand
durchs Glas gemacht von Menschenhand.
Es mehren sich Fragen, wenn die Dämmerung naht,
wenn nur wenig Zeit bleibt und so viel nicht erreicht
scheint es, dass ein Leben dem anderen gleicht,
in Länge, in Form und in Inhalt und Art.
Wozu leben? Was ist der Sinn dieser Welt,
wenn sie nachher wie vorher sich weiterdreht?
Was ein Fremder begann, still und heimlich vergeht,
wenn das letzte Korn lautlos zu Staub zerfällt.
Es flog der Sand, es flog die Zeit
durchs Glas, das barg die Endlichkeit.
Copyright by Andreas Seifert, 2007